Moche: Naturalistische Kunst

Moche: Naturalistische Kunst
Moche: Naturalistische Kunst
 
Von allen Kulturen des präkolumbischen Peru — mit Ausnahme der der Inka, deren Kultur durch die schriftlichen Quellen der Spanier belegt ist - ist keine Kultur so gut erschlossen wie die der Moche. Jedoch ist die Situation für die Wissenschaft vergleichbar einer Erforschung des klassischen Griechenland ohne Schrift, wobei die Archäologen versuchen müssten, nur aufgrund der Interpretation von Vasenmalerei und Bildhauerei ein Bild der zugrunde liegenden Kultur zur erhalten. Die Handwerker und Künstler der Moche hinterließen ein im alten Amerika einzigartiges Abbild ihrer Welt und ihres Lebens: Es ist ihre realistische und naturalistische Keramik, neben den Metall- und Holzarbeiten, in der alle Bereiche ihres Lebens wiedergegeben wurden. Dabei reicht die Palette der Darstellungsformen von szenischer Bemalung über reliefierte Wiedergaben bis hin zur Vollplastik und zu verschiedensten Kombinationen dieser Formen.
 
Benannt nach dem Tal des Río Moche, das zusammen mit dem Chicamatal das Zentrum dieser Kultur bildete, entstand um die Zeitenwende an der nördlichen Küste das erste Königreich des alten Peru mit der Huaca del Sol, der Sonnenpyramide, die vermutlich auch den königlichen Palast beherbergte, als Mittelpunkt. Auf seinem Höhepunkt erstreckte sich das Königreich über rund 250 km in einem schmalen, wüstenhaften Küstenstreifen. Mehrere Flusstäler hatte es durch militärische Eroberungen unter seine politische Kontrolle gebracht. Die Militäraktionen dienten vor allem der Erweiterung des nur begrenzt vorhandenen fruchtbaren Ackerlands, das von den Moche durch weitläufige Bewässerungsanlagen, wie etwa 113 km lange Kanäle oder 1400 m lange Aquädukte, bis zum Optimum genutzt wurde. Diese Leistungen der Ingenieurkunst sind Zeugnisse der rationalen Organisation ihres Staates beziehungsweise ihres staatsähnlichen Gebildes. Diese bezeugen auch die riesigen Pyramiden, die Paläste und Festungen, die aus Millionen von Adobeziegeln erbaut waren, sowie die Expansion und die Größe des Gebietes. Auch die umwälzende Umstellung der Modelproduktion auf die Massenfabrikation von Tongefäßen, die zu Hunderttausenden hergestellt wurden und im gesamten Reich Verbreitung fanden, die Kontrolle sowie die Standardisierung aller handwerklichen Produkte sind Merkmale eines hoch differenzierten Staatsgebildes.
 
Die Kunst der Moche ist von einem im präkolumbischen Amerika einmaligen Expressionismus und Individualismus geprägt, die sich in der Keramik am deutlichsten manifestieren. Aber seit den spektakulären archäologischen Ausgrabungen der Königsgräber von Sipán in Nordperu, in denen aufregende Goldgegenstände zum Vorschein kamen, ist auch endgültig die künstlerische Meisterschaft der Moche auf dem Gebiet der Metallurgie belegt. Zwar wurde in Massen produziert, die Variationsbreite an Grundformen ist bei den Tongefäßen jedoch nicht sehr groß. Vorherrschend sind Gefäße mit steigbügelförmigem Ausguss - ein Erbe von Chavín -, deren Körper kugelförmig, zylindrisch, quaderförmig oder figürlich gestaltet sein kann. Es kommen aber auch Schüsseln, Kannen, Schöpfer, Krüge und Doppelgefäße vor. Im Gegensatz zur Polychromie von Nazca beschränkt sich die Farbskala bei den Moche auf die Kombination der Farben Rotbraun und Creme; seltener sind dunkelgraue und schwarze Gefäße.
 
Im Vergleich zur Armut an Formen scheint die Zahl der dargestellten Themen fast unerschöpflich, obwohl in jüngerer Zeit viele Wissenschaftler einwenden, dass sich auch die Themen auf eine recht geringe Zahl reduzieren lassen, die — fast ausschließlich von symbolischem Sinngehalt — in der Keramik der Moche stets wiederholt wird. Doch dieser Einwand ist wenig überzeugend: Wir werden mithilfe der Darstellungen über Flora und Fauna, über Jagd, Fischfang und Sammeltätigkeit informiert; wir sehen Frauen, die Kinder oder Lasten tragen, Tänzer und Musikanten, Vornehme mit reichem Schmuck und vielfältiger Kleidung und die berühmten Porträtköpfe, die zweifellos bestimmte (Herrscher-)Persönlichkeiten darstellen. Auch negative Aspekte des menschlichen Lebens fanden ihren Niederschlag, wenn etwa Sklaven, Kranke, Blinde und Verstümmelte dargestellt wurden. Und sogar ihr Sexualleben haben die Moche in aller Konsequenz und mit allen damit verbundenen Vorstellungen, seien sie profaner oder magisch-religiöser Natur, in ihrer Keramik für immer festgehalten. Die zahlreichen Darstellungen von bewaffneten Kriegern, Kämpfen zwischen Moche-Soldaten und nackten Kriegern — das heißt Kriegern anderer Völker —, von Gefangenen und deren Opferung bestätigen die wichtige Rolle des Militärs innerhalb der Moche-Gesellschaft.
 
Viele Darstellungen aus dem religiös-kultischen Bereich der Moche geben uns auch eine Vorstellung ihrer Konzeption der übernatürlichen Welt. Diese konnte zu jeder Zeit und zu jeder Gelegenheit in die profane Welt und das tägliche Leben übergreifen. Die wahrscheinlich unbewusst immer vorhandene, jedoch nur fallweise in Erscheinung tretende Einheit von profaner und transzendenter Welt erklärt das Auftreten von Gottheiten, die als Mischwesen zwischen Mensch und Tier beziehungsweise Mensch und Pflanze gedacht wurden. Im Pantheon der Moche gab es insbesondere menschengestaltige Füchse, Hirsche, Jaguare, Raubvögel, Eulen, Krabben und Schlangen, aber auch Mais- und Bohnengottheiten waren darin aufgenommen. Auch sie geben sich häufig kriegerisch, sind schwer bewaffnet und in Kämpfe untereinander verwickelt. »Der Gott mit den Reißzähnen«, wahrscheinlich die zentrale Gottheit der Moche, geht stets als Sieger aus den Kämpfen mit den tiergestaltigen Wesen hervor. Auch bestimmte Kulthandlungen, die unter der Leitung von Priestern und Vornehmen standen, tauchen immer wieder auf den Tongefäßen auf: rituelle Tänze, zeremonielle Wettläufe, der Genuss von Coca, manchmal auch Menschenopfer und speziell die Szene des »Darbringens« von Opfern.
 
Dr. Peter Kann
 
 
Alcina Franch, José: Die Kunst des alten Amerika. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 21982.
 Lavallée, Danièle und Lumbrerars, Luis Guillermo: Die Andenvölker. Von den frühen Kulturen bis zu den Inka. Aus dem Französischen und Spanischen. München 1986.

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Moche —   [ motʃe], Ort und Tal im nördlichen Peru, in der Küstenebene südlich von Trujillo; auch Bezeichnung der Kultur der Mochica und besonders des ihr eigenen Keramikstils. Vom Mochetal aus breitete sich die Mochekultur von 100 bis 700 aus und… …   Universal-Lexikon

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